Noch kein Jahr ist es her, seitdem uns die ersten Bilder und Nachrichten vom türkischen Angriffskrieg auf den Kanton Afrin in Europa erreichten. Am späten Nachmittags des 20. Januars 2018 flimmerten die ersten Aufnahmen, der türkischen Kampfflugzeuge, wie sie ihre tödliche Fracht über Afrin entluden, über die Bildschirme der Fernsehgeräte, Computer und Smartphones. Nichts von dem was sich damals zugetragen hat, passierte im Versteckten. Jede und Jeder konnte sehen, was in Afrin geschah, wurde Zeuge wie wehrlose ZivilistInnen im Bombenhagel zerfetzt wurden und eine friedliche Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde. Die Welt war Zeuge als die türkische Besatzerarmee und ihre islamistischen Söldnerheere ihre Gräueltaten und Verbrechen vollbrachte. Doch kein ernstzunehmendes Widerwort, kein Protest, auch nicht der geringste Versuch dem Morden Einhalt zu gebieten war damals aus den Regierungszentren des sogenannten demokratischen Westens zu vernehmen. Der Krieg gegen die Bevölkerung Afrins und ihre Selbstverteidigungsstrukturen hat einmal mehr unter Beweis gestellt, dass die hochgelobten Werte von Menschenlichkeit, Frieden, Freiheit und Demokratie im Interessensfall ohne zu Zögern in den Dreck getreten werden. Keiner der Staaten die damals diesen Angriffskrieg, dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitgetragen haben, kann sich je von dieser Schuld reinwaschen. Wir wissen genau an wessen Händen das Blut unserer Genossinnen und Genossen klebt und werden sie zur Rechenschaft ziehen.
Wir haben weder die Bilder der Panzer in den Olivenhainen Afrins vergessen, noch wer den Besatzern die Waffen in die Hand gab, mit denen sie unsere GenossInnen ermordeten. Wir kennen die Produzenten der todbringenden Bomben, die die faschistische türkische Armee auf die Kinder Afrins niederregnen lies sehr genau und wir wissen nur zu gut wer die Erlaubnis für den Überfall erteilte und damit die Massaker erst möglich werden lies. Wir haben einige ihrer Namen genannt, es tut keine Not, sie an dieser Stelle noch einmal aufzuführen. Wir möchten zu Beginn nur eines klar stellen: Wir vergessen und vergeben nichts.
Wir sehen in diesen Tagen die Notwendigkeit uns ein weiteres Mal zu Wort zu melden, denn heute befindet sich die Revolution von Nordostsyrien erneut in höchster Gefahr. Der türkische Diktator Erdogan bläst in Ankara zum Generalangriff auf Rojava und lässt tausende von Soldaten, Artillerie, Panzern und schweren Waffen an die Grenze zu Syrien verlegen. Die Zehntausenden in den vergangenen Monaten, auf türkischem Territorium und in den besetzten Gebieten Nordsyriens ausgebildeten islamistischen Söldner stehen Bereit zum Sturm auf das Ostufer des Euphrats.Seit Monaten arbeitet das AKP-MHP Regime in enger Koordination mit den USA, Russland und den europäischen Staaten an einem letzten finalen Vernichtungsfeldzug gegen die Demokratische Nordsyrienföderation. Mit dem Abzug der US-amerikanischen Truppen, scheinen die letzten Vorbereitungen nun abgeschlossen. Nachdem die KämpferInnen der YPJ/YPG/SDF in vier Jahren harten Kampfes und unter größten Opfern das selbsternannte Kalifat des sog. Islamischen Staates an den Rande der vollständigen Vernichtung gebracht haben, entledigt sich die Internationale Koalition ihrer ehemaligen „Verbündeten“ und hat offensichtlich die Entscheidung gefällt die befreiten Gebiete ihrem NATO-Partner Türkei zur Besetzung und Plünderung zu übergeben. Der Imperialismus zeigt wieder einmal seine dreckige Fratze und ist entschlossen diese Revolution zu liquidieren. Wir sind weit davon entfernt uns über diese Entscheidung zu empören oder uns zu entsetzen. Etwas anderes war von diesen Verbrechern nicht zu erwarten. Immer deutlicher wird damit das, was die kurdische Befreiungsbewegung immer schon klargestellt hat, doch allzu oft überhört werden wollte: Die Fronten im Mittleren Osten und Weltweit verlaufen nicht zwischen einzelnen Staaten und Mächten untereinander, sondern vielmehr zwischen Revolution und Konterrevolution.
Deshalb halten wir es für mehr als angebracht sich in diesen Stunden erneut die #fight4afrin-Kampagne ins Gedächtnis zu rufen und einer allgemeinen Bewertung zu unterziehen. Bis heute ist dieses kleine Stück linksradikaler Geschichte in Europa von uns bewusst unkommentiert geblieben, denn wir haben dieses Kapitel nie als abgeschlossen betrachtet. Ebenso wie der Widerstand in Afrin ungebrochen anhält und den Besatzern Woche um Woche schwere Schläge versetzt, halten wir es für nötig unter den Kampf gegen die Unterstützer und Kollaborateure des faschistischen türkischen Staates im Hinterland des Krieges, keinen vorschnellen Schlussstrich zu ziehen.
Es gilt die vergangene Phase erneut zu reflektieren und auszuwerten, weshalb wir an dieser Stelle eine kurze Bilanz und Bewertung des militanten Widerstands wagen möchten.
Im Rahmen des militanten Widerstands gegen den Angriffskrieg in Afrin wurden zwischen dem 21.1. und dem 15.05.18 insgesamt 136 erfolgreiche Angriffe durchgeführt. Und dies sind nur jene Aktionen welche uns bekannt waren, es wird noch viele mehr geben haben, welche stattfanden ohne ein Zeichen zurück zulassen. Von diesen Aktionen fanden 93 in der BRD, 8 in Griechenland, 8 in Italien, 8 in Frankreich, 4 in Österreich, 3 in der Schweiz, 3 in Belgien, 2 in Schweden und 2 in den Niederlanden und jeweils eine einzelne Aktion in der Slowakei, in Serbien, Kanada, dem Vereinigten Königreich und Dänemark, statt. Insgesamt wurden 20 Banken die durch Investitionen in die Rüstungsproduktion ihr blutiges Geld verdienen, 24 Einrichtungen der europäischen Rüstungsindustrie oder der militärischen Kooperation mit der türkischen Besatzungsarmee, 24 Einrichtungen der europäischen Politik und 75 Einrichtungen die in direkter Verbindung oder Kollaboration mit dem türkischen Regime stehen, Ziel unserer nächtlichen Attacken. Vom ersten Tag an, war die Besatzungsoffensive nicht nur begleitet von Massenprotesten und Aktionen des zivilen Ungehorsams sondern auch von nächtlichen Vergeltungsschlägen der Rachekommandos und autonomen Gruppen. In Zeiten in denen die westliche Presse noch Stillschweigen über die Gräueltaten in Afrin walten lies, zwangen die militanten Aktionen das Thema auf die Tagesordnung.
Die Stille wurde durchbrochen und der Widerstand begann sich zu organisieren. Der Fokus der Aktionen auf Ziele faschistischer Kollaborateure veränderte sich spätestens nach dem ersten Aufruf der Kampagne Fight4Afrin vom 08. März. Fortan wurden auch vermehrt Ziele der europäischen Rüstungsindustrie, Banken, sowie vor allem in der BRD, Büros und Zentren der Regierungsparteien angegriffen. Durch die Aktionen wurde die Komplizenschaft der einzelnen Institutionen aufgezeigt und durch zahlreiche gut recherchierte Aktionen, bisher unentdeckte Kriegsprofiteure aufgedeckt und angegangen. Die Kampagne verstetigte sich und die Bandbreite der Aktionen reichte von Glasbruch, über Farbbeutel bis hin zu feinsäuberlich ausgeführten Brandanschlägen. Hervorzuheben ist die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Aktionsformen. So wurde beispielsweise in Aktionen zivilen Ungehorsams wie Besetzungen von Parteibüros als auch auf spontanen unangemeldete sowie legalen Demonstrationen, sichtbarer Bezug auf die Kampagne genommen. Der Hashtag #fight4afrin verbreitete sich überall wo zur Solidarität mit dem Widerstand aufgerufen wurde.
Die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Aktionsformen leistete einen wichtigen Beitrag dazu, den Distanzierungsterror, vorangetrieben von staatlicher Stelle, ins Leere laufen zu lassen und einen fließenden Übergang der verschiedenen Aktionsformen herzustellen. Die Kampagne ist in dieser Form anschlussfähig und vermittelbar geblieben und konnte nicht so leicht in eine Ecke gedrängt werden. Besonders hervorheben möchten wir, dass im Rahmen der Kampagne in den Anschlagserklärungen, der Namen der Kommandos und an anderen Stellen ein offener Bezug zu den Gefallenen des Widerstands von Afrin und des bewaffneten Kampfes genommen wurde. Für uns stellt dies eine neuen Qualität dar. Die Wiederaneignung revolutionärer Gedenkens ist ein notwendiger Teil einer widerständigen Kultur, in welcher das Gedenken an unsere gefallenen GenossInnen immer auch mit unserem Versprechen zur Fortsetzung ihres Kampfes und der Realisierung ihrer Träume verbunden ist. Dies wurde durch die Widmungen der militanten Aktionen an einzelne oder mehrere unserer Gefallenen zum Ausdruck gebracht. Unser Gedenken ist damit keine bewegungslose Trauer über den Verlust unserer FreundInnen geblieben, sondern eine Botschaft an den Feind: Dieser Kampf wird auf ewig weitergehen, ganz gleich wie viele ihr von uns auch ermorden mögt. Unsere Toten sind unsterblich, solange es auf dieser Erde noch Menschen gibt, die ihren Kampf fortführen.
Die militanten Aktionen haben vielen Menschen in dieser Zeit Hoffnung und Motivation gegeben, da sie den Nerv getroffen hatten. Durch sie ist die Tiefe des Widerspruch zwischen uns und dem Staat, Faschismus und Kapital zum Vorschein gekommen, welcher nicht befriedet oder vereinnahmt werden konnte. Die Kampagne hat gezeigt, dass wir uns auch jenseits von Gipfeln der Herrschenden in solch einer Form, der militanten Aktion, organisieren können. Und viele haben das Handwerk der militanten Aktion neu gelernt, in der direkten Aktion ihre eigene Handlungsfähigkeit und Kraft gespürt. Das sind wichtige Momente, schreiben sich doch ein, in eine kollektives Gedächnis eines Anfangs einer Bewegung. Die Kampagne Fight4Afrin, eingebettet in den allgemeine Aufbruch hat gezeigt, dass wir nicht nur wissen was es zu verteidigen gilt, sondern auch, was es zu Gewinnen gilt: Vereint den Widerstand gegen das Herrschende zu leben.
Doch müssen wir uns auch eingestehen, dass wir die Besatzung Afrins nicht verhindern konnten. Daran müssen und wollen wir uns Messen lassen. Wir haben eine Schlacht verloren, doch noch lange nicht die Revolution!
Wir wissen nicht, was uns in den kommenden Wochen erwarten wird. Klar ist nur, dass wir vorbereitet sein sollten, auf alle Eventualitäten entsprechend zu reagieren. Das faschistische Regime in Ankara wird seine Großmachtspläne nicht so einfach fallen lassen. Der Krieg wird weitergehen, solange bis der türkische Staat und mit ihm auch seine UnterstützerInnen endgültig niedergeschlagen sind. Das AKP-MHP Regime stellt heute das aggressivste faschistische Regime dar, mit dem wir in unseren Tagen konfrontiert werden. Sollte der türkische Besatzerstaat samt seiner islamistischen Mörderbanden zur Tat schreiten und zum Angriff gegen Nordostsyrien übergehen, dann droht nicht nur die Zerschlagung des revolutionären Gesellschaftsprojekts, sondern auch Massaker, Völkermord, ethnische Säuberung und die langfristige demografische Veränderung der gesamten Region. Genauso wie in Afrin und den anderen besetzten Gebieten wird der türkische Staat alles daransetzen, die ansässige Bevölkerung zu vertreiben und das Gebiet Stück für Stück dem türkischen Territorium einzuverleiben. Für das was derzeit in der Türkei und in den besetzen Gebieten in Syrien und dem Irak erlebt wird, kann es keine andere Bezeichnung mehr geben als offenen Faschismus.
Insofern sollten all diejenigen die sich selbst als AntifaschistInnen betrachten, den Kampf gegen den türkischen Staat nicht nur als eine nationale Frage des kurdischen Volkes und der anderen Volksgruppen der Region betrachten, sondern als Kampf gegen Faschismus und damit als eine Pflicht. Über ideologische Grenzen und Meinungsverschiedenheiten gilt es in dieser Frage hinwegzusehen. Was im Mittelpunkt der kommenden Kämpfe stehen muss, ist der gemeinsame Feind, der türkische Faschismus und seine Kollaborateure und westlichen Unterstützer. Die Revolution im Mittleren Osten konnte noch nie auf die Hilfe der imperialistischen Mächte zählen, doch heute wird mehr als je die Bedeutung wirklicher revolutionärer internationaler Solidarität deutlich. Als RevolutionärInnen in den imperialistischen Metropolen, haben wir eine Verantwortung gegenüber dem Kampf in Rojava zu tragen.
Tod dem türkischen Faschismus